Hallo,
Mich würde interessieren, ob auch andere nicht nur von dem "keine Bilder vorstellen können" betroffen sind, sondern auch von einer anderen Wahrnehmung der Zeit, der eigenen Vergangenheit, Erinnerungen, etc. - also alles in Richtung SDAM (severly deficient autobiograpohical memory).
Ich selber scheine sehr stark betroffen zu sein. Frage mich sogar, ob ich überhaupt ein episodisches Gedächtnis habe. Zumindest finde ich mich in der Beschreibung dieses Falles gut wieder: https://www.wired.com/2016/04/susie-mckinnon-autobiographical-memory-sdam/
Mir ist es in den ersten 47 Jahren meines Lebens nie wirklich aufgefallen, aber seit ich von meiner Aphantasie (und SDAM) weiß, sind die Unterschiede doch recht deutlich. Ich bin selber erstaunt darüber, wie gut ich "im normalen Leben" funktioniere. Ich betrachte meinen Normalzustand, immer im Hier und Jetzt zu sein, inzwischen aber eher als Vorteil, wenn ich mir so meine von Sorgen und Kummer geplagten Mitmenschen anschaue.
Bewust formulierte Ereignisse bzw. Ereignisse die ich unmittelbar nach dem Erleben durchdacht habe werden als Fragment gespeichert (ohne Bilder und Empfindungen). Alles "nur" erlebte, wie die Beerdigung meines Bruders vor 3 Jahren kann ich maximal als Faktenwissen bzw. wie vom Hören/Sagen erinnern.
Ich kann den Artikel sehr gut nachvollziehen und finde mich in einer vergleichbaren Position. Das hier und jetzt ist da und in dem lebe ich. Alles andere: aus den Augen aus dem Sinn.
Ich habe auch ein ganz schlechtes autobiographisches Gedächtnis. Wenn mir jemand eine Geschichte von früher erzählt ("Weißt Du noch damals ...") kann ich mich nie erinnern und denke ich war da gar nicht dabei - erst wenn derjenige Einzelheiten erzählt, dämmert eine vage Erinnerung (ohne Bilder versteht sich).
Ich finde das wirklich schade, dass man die lustigen, kleinen Geschichtchen von früher aus dem Sinn verliert, mutmaßlich nur weil man "keine Bilder" hat. Dagegen, wenn um reine Fakten geht kann ich an alles mögliche erinnern ...
Ich finde den Artikel gar nicht extrem. Mir geht es genauso. Es gibt ein paar Momente in meinem Leben (wirklich nur wenige) an die ich mich erinnere aber ohne einen Bezug dazu zu haben. Manchmal erinnere ich mich an die Anekdoten die mir jemand erzählt aber es fühlt sich nicht an als ob es meine eigene Erinnerung ist.
Vielen Dank für den Link zu dem Artikel.
Manche Aussagen dort finde ich auch für mich selbst zutreffend, andere gehen für mich zu weit – was aber auch daran liegen könnte, dass es sehr schwer ist, das innere Erleben und Denken in Worte zu fassen. („She doesn’t remember any vacation she’s ever taken.“ – Wenn man mich fragt, wo ich überall schon war, könnte ich es mit ein bisschen Mühe sicher aufzählen; die Jahreszahlen würde ich allerdings wahrscheinlich nicht gut hinbekommen. Ich kann mich also an Urlaube an sich schon „erinnern“. Ich sehe aber keine Bilder mehr vor mir und kann keine Empfindungen mehr „wieder fühlen.“ „She is unfamiliar with the feeling of regret and oblivious to the diminishments of aging”. Ganz sicher nicht – natürlich kann ich bedauern und merke, wie ich älter werde. „She doesn’t experience her own life as a narrative”. – Naja – auch aus den Fakten, die man über sein Leben weiß, kann man sich ja eine Geschichte schaffen, und das tue ich auf jeden Fall. „She cannot daydream” – oh doch; das habe ich schon immer gemacht, nur nicht in Bildern, und Geschichten kann ich mir auch ausdenken. „She lacks the ability to mentally relive [her life]“ – ja, das würde ich auch so unterschreiben.)
Ich habe z.B. auch Souvenirs von Reisen in meinem Wohnzimmer und ich weiß, dass diese eine Schale aus Madagaskar kommt, aber ich habe keine Ahnung, unter welchen Umständen ich sie dort gekauft habe. Ich habe schon immer viel Tagebuch geschrieben und im Urlaub Fotos gemacht. Wenn ich heute Fotoalben anschaue, sehe ich teils spektakuläre Landschaften und eine etwas jüngere Version von mir in dieser Landschaft, und ich weiß auch rein faktisch, dass ich an diesem Ort war, aber ich kann mich nicht „dahin versetzen“ oder diesen Moment „wieder herholen“ oder „noch einmal erleben“. Ich weiß zum Teil, dass ich an diesem Ort und in diesem Moment unglaublich glücklich war (oder dass die Stimmung schlecht war), weil ich es so in meinem Tagebuch notiert habe, aber das Gefühl kommt nicht zurück.
Was mir auch jetzt erst – nach dem Aha-Erlebnis mit der Aphantasie – so richtig aufgefallen ist: Diese klassische Frage nach der frühesten Kindheitserinnerung könnte ich nicht beantworten. Es klingt so, als finge bei anderen Leuten irgendwann ein Film an – vorher ist die Filmrolle schwarz, und irgendwann kommen dann die ersten Bilder, und das ist dann die erste Kindheitserinnerung. Ich habe keine Erinnerung an meine Kindheit. Ich kenne nur Fotos von mir – deshalb weiß ich, wie ich ausgesehen habe und wie z.B. mein Zimmer und der Garten ausgesehen hat und wo wir im Urlaub waren.
Was in dem Artikel auch anklingt und worüber ich gar nicht wirklich nachdenken will, weil es unheimlich ist: Heißt das nicht, dass andere Menschen mich besser kennen als ich mich selbst? Sie erinnern sich daran, wie ich war, wie ich ausgesehen habe und wie ich mich verhalten habe. Das bestimmt sicherlich auch heute noch ihre Meinung von mir und wie sie sich mir gegenüber verhalten, weil ihnen das noch präsent ist. Ich selbst habe diese Erinnerungen aber nicht, oder nur in einer sehr abgeschwächten / anderen Form, als erinnerte Tatsache, oft unterstützt durch Bilder oder Geschriebenes. Bin ich dadurch nicht im sozialen Miteinander benachteiligt?
Einige Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass Aphantasie und SDAM dasselbe Phänomen sein könnten, nur aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, nämlich einmal aus der Perspektive des Vorstellungsvermögens und einmal aus der Perspektive des Gedächtnisses. Sicher ist dabei, dass beide Fähigkeiten auf ähnlichen (neuronalen) Prozessen beruhen [1, 2, 3]. Andere gehen wiederum davon aus, dass SDAM eine Extremform von Aphantasie ist [4].
Quellen:
[1] Blomkvist, A. (2023). Aphantasia: In search of a theory. Mind & Language, 38(3), 866-888.
[2] Addis, D. R., Wong, A. T., & Schacter, D. L. (2007). Remembering the past and imagining the future: Common and distinct neural substrates during event construction and elaboration. Neuropsychologia, 45(7), 1363-1377.
[3] Addis, D. R., Wong, A. T., & Schacter, D. L. (2008). Age-related changes in the episodic simulation of future events. Psychological science, 19(1), 33-41.
[4] Watkins, N. W. (2018). (A) phantasia and severely deficient autobiographical memory: Scientific and personal perspectives. Cortex, 105, 41-52.
Danke für den spannenden Artikel über susie mc kinnon. Auch ich erlebe sehr viele Parallelen zum Beschriebenen. Es passiert mir immer wieder, dass enge Freunde Anekdoten aus der gemeinsamen Vergangenheit erzählen und ich selber keine Erinnerung mehr daran habe. Es ist mir manchmal unheimlich, dass Gefühl zu haben, andere wüssten besser über mein (vergangenes) Leben Bescheid als ich.
Aber alles in allem pflichte ich deinem Schlusssatz sehr zu. Es ist wunderschön und ich bin dankbar dafür, mit solcher Leichtigkeit im Hier und Jetzt zu sein - offensichtlich ist dies für andere keine Selbstverständlichkeit.
Seit ich von meiner Aphantasie weiß reflektiere ich auch die verschiedenen Lebensetappen. Auch wenn ich mich nicht an die Bilder erinnere, kommen Erinnerungen. Nicht Details, aber doch relevante Zusammenhänge.
Der Fall in dem Link ist wirklich extrem. Wenn ich mich in meine Vergangenheit versetze, sind mir dabei keine Jahreszahlen parat. Aber würde ich mich in meiner Familie unterhalten, denke ich, wir würden uns alle gegenseitig bestätigend erinnern an Früheres. Das man die Situationen nach langer Zeit so detailliert beschreiben kann, als wären sie eben geschehen, das finden wir total ungewöhnlich. Übrigens von 7 Geschwistern meint nur unser Linkshänder, man sieht doch immer Bilder. Das wir anderen in der absoluten Minderheit sein sollen, kommt mir immer noch unglaublich vor.